Der 8. Mai ist ein Tag des Gedenkens, der Erinnerung, der Trauer, der Mahnung. Und auch der Dankbarkeit. Vor 35 Jahren, am 40. Jahrestag des Kriegsendes, sagte Bundespräsident Richard von Weizsäcker:
“Der 8. Mai ist für uns Deutsche kein Tag zum Feiern. Die Menschen, die ihn bewusst erlebt haben, denken an ganz persönliche und damit ganz unterschiedliche Erfahrungen zurück. Der eine kehrte heim, der andere wurde heimatlos. Dieser wurde befreit, für jenen begann die Gefangenschaft. Viele waren einfach nur dafür dankbar, dass Bombennächte und Angst vorüber und sie mit dem Leben davongekommen waren. Andere empfanden Schmerz über die vollständige Niederlage des eigenen Vaterlandes. Verbittert standen Deutsche vor zerrissenen Illusionen, dankbar andere Deutsche vor dem geschenkten neuen Anfang.”

Für Millionen Menschen war am 8. Mai 1945 der Krieg vorüber, aber eine jede, ein jeder erlebte es anders, was das für ihn oder sie hieß. Als 20 Jahre nach Kriegsende Geborene habe ich mir erzählen lassen von meinen Eltern, von anderen Familienmitgliedern, von älteren Freunden, wie sie den Krieg und das Kriegsende erlebt haben. Und ich habe Erinnerungen gelesen. In denjenigen der Politikerin Hildegard Hamm-Brücher fand ich diese Worte: “Ich weiß noch genau, dass sich wildfremde Menschen mit Tränen in den Augen um den Hals fielen… Nie wieder in meinem Leben habe ich so intensiv gefühlt, was es heißt, weiterleben zu dürfen – frei leben zu dürfen -, ohne Ängste in unendlicher Dankbarkeit und in der unerschütterlichen Hoffnung auf eine bessere Zukunft.”


Heute ist das Kriegsende in Europa 75 Jahre her. Bei aller berechtigten Kritik an politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen in Deutschland und Europa – Wir haben an einer besseren Zukunft teil, seit siebeneinhalb Jahrzehnten. An Demokratie und Freiheit. Die dritte Generation ist herangewachsen. Meine Töchter gehören dazu. Sie sind auch schon erwachsen und kennen nicht nur den Krieg, sondern auch die unmittelbare Kriegsfolge, das geteilte Deutschland, nur noch aus Erzählungen und Geschichtsbüchern. Und sie sind die dritte Generation, die nicht mehr hat lernen müssen, was es heißt, im Krieg zu leben.


Die Errungenschaften des Friedens, die Versöhnung und Verständigung der ehemaligen Kriegsgegner in Europa, sind nicht ungefährdet; das erleben wir in diesen Wochen. Bundestagspräsident Wolfgang Schäube hat gesagt: “Aus dem Kriegsende folgt die Verpflichtung für Europa.” Ebenso erleben wir eine ungekannte Einschränkung der Grundrechte durch die Corona-Pandemie, die uns aber zugleich mehrheitlich ihren unschätzbaren Wert wahrnehmen und dafür einstehen lässt. Und wir erleben eine diskurs- und handlungsfähige Demokratie, die ohne den 8. Mai 1945 nicht denkbar wäre.


Drei Generationen, die im Frieden leben dürfen, ein wiedervereintes Deutschland, ehemalige Gegner, die trotz allem noch immer gemeinsam für den Frieden einstehen, die Möglichkeit von Heimat in diesem Land für die, die sie 1945 verloren haben und auch für viele, die sie seitdem verlieren: Das ist für mich Grund für tiefe Dankbarkeit. Dankbarkeit ist die wesentliche Grundlage für Wertschätzung. Dankbarkeit für den Frieden allein ist die Voraussetzung, dass wir erkennen, welch unermeßlicher Wert er ist, dass wir uns für den Frieden einsetzen als die einzige wirkliche Lebensmöglichkeit für uns und alle Menschen. Was es dazu braucht, das hat Richard von Weizsäcker vor 35 Jahren mit eindrücklichen Worten gesagt:

„Ehren wir die Freiheit.
Arbeiten wir für den Frieden.
Halten wir uns an das Recht.
Dienen wir unseren inneren Maßstäben der Gerechtigkeit.
Schauen wir am heutigen 8. Mai, so gut wir es können, der Wahrheit ins Auge.“

Pastorin Dr. Wiebke Bähnk