Es wird viel gezählt in diesen Tagen: Neuinfizierte, Verdachtsfälle, Verstorbene, Genesene. Für einen angemessenen Umgang mit Corona, für die Risikoabwägung und die Abstimmung der Maßnahmen in allen Bereichen der Öffentlichkeit ist das notwendig. Ohne Frage. Aber hinter jeder Zahl steht das Leben eines Menschen. Noch ist es nicht so, zumindest nicht hier in und um Itzehoe, daß jeder von uns jemanden kennt, der erkrankt oder gestorben ist an Covid-19. Gott sei Dank. Aber jeder, da bin ich sicher, kennt mittlerweile jemanden, der in anderer Weise unter den Lebensbedingungen dieser Zeit leidet. Die junge Mutter, die schwer an Krebs erkrankt ist, und so dringend ein wenig Zeit zum Ausruhen bräuchte. Aber niemand außerhalb ihrer Familie darf für eine Weile mit ihren Kindern spielen, ein Eis mit ihnen essen gehen. Die Familie, die von ihrer sterbenden Mutter und Großmutter nur unter größten Mühen im Seniorenheim Abschied nehmen darf – weil sie besondere Schutzanzüge besorgen können. Meine Freundin in einem Hamburger Seniorenheim, die auf die Isolation und das „Eingesperrtsein“ mit Depression reagiert.

Jesus fragt die zwei Blinden vor Jericho: Was wollt ihr, daß ich für euch tun soll? (Mt 20,32) Diese Frage können wir anderen Menschen genauso stellen. Was kann ich Dir Gutes tun? Womit kann ich Dir helfen? Manches werden wir nicht tun können, was wir so gerne anderen zugute täten. Mein Vater, der auch in einem Seniorenheim lebt, möchte einfach nur besucht werden. Das nicht tun zu können, tut weh. Aber vieles ist auch möglich: Telefonate, viel häufiger als sonst, Mails, Briefe, etwas Liebevolles schicken oder vor die Tür stellen, den Enkelkindern über Videotelefonie vorlesen oder sogar mit ihnen lernen. Die Tochter meiner Freundin in Hamburg ruft sie jeden Abend an und spielt ihr auf dem Klavier etwas vor, singt mit ihr. Eine kleine Freude wenigstens. Und wir haben gestern am Telefon zusammen gebetet.

Was möchtest Du, daß ich es für Dich tue? Was kann ich Dir Gutes tun? Um das bei einem anderen Menschen wahrzunehmen, gerade auch wenn er oder sie es nicht ausdrücklich sagt oder nicht sagen kann, dafür braucht es unser Einfühlungsvermögen, unsere Aufmerksamkeit. Die Mystikerin Simone Weil hat die Aufmerksamkeit, „attente“, als zentrale menschlich-religiöse Grundhaltung angesehen. Besonders Menschen, die leiden und unglücklich sind, „bedürfen keines anderen Dinges in dieser Welt als solcher Menschen, die fähig sind, ihnen ihre Aufmerksamkeit zuzuwenden.“ Diese Aufmerksamkeit ist, mit ihren Worten gesagt, „der wesentliche Gehalt der Liebe, der Gottesliebe genauso wie der Nächstenliebe.“ Aufmerksam auf einen anderen zu sein ist Ausdruck der Liebe, sie ist „der Stoff, aus dem die Liebe gemacht“ ist. Und sie wiederum macht es, daß es trotz allem nicht die Zahlen sind, die wir im Sinn haben, sondern die Menschen.

Pastorin Dr. Wiebke Bähnk