Liebe Weihnachtsgemeinde,

Wo ist Gott, in all dieser Not?
Drei Jahre mag es her sein. Nach dem Nachtgottesdienst am Heiligabend kommt ein Mann zu mir hier in den Altarraum von St. Laurentii. Er erzählt mir von seiner Frau, die in dem Jahr gestorben ist nach langer Krankheit, von seinen beruflichen Problemen und Existenzsorgen. Und dann fragt er – mich und wie es aussieht auch sich selbst: Wo ist nun Gott in all dem? Sein Blick fällt auf die Krippe. Nachdenklich sagt er: Vielleicht ist er ja genau da, wo Menschen nicht mehr viel haben, was ihnen bleibt.

Weihnachten ist Tradition und Erinnerung, wisst Ihr noch vom vorigen Jahr, wie’s am Heil’gen Abend war. Weihnachten ist Duft nach Tannengrün und Lebkuchen, ist der Geschmack des Weihnachtsessens, Weihnachten ist Familie, größer oder kleiner, Weihnachten ist Musik, ist Erzählung. Ein vertrauter Rahmen. In diesem Jahr fehlt vieles von diesem Rahmen. Das schmerzt einfach. Aber es kann auch sein, dass wir in diesem Jahr einmal anders auf das Bild schauen, das in diesen Rahmen gehört. Das Bild der Weihnacht, das uns in aller Schlichtheit zeigt, wie Gott in die Welt kommt, wo er ist.

Gott kommt als Neugeborenes. Und Maria gebar ihren ersten Sohn und wickelte ihn in Windeln und legte ihn in eine Krippe; denn sie hatten sonst keinen Raum in der Herberge. Das ist uns so vertraut, wir sehen sofort das Idyll des Stalles mit der Krippe vor uns – da liegt es, das Kindlein auf Heu und auf Stroh, Maria und Joseph betrachten es froh -, dass wir verlernt haben, das Herausfordernde, ja geradezu alle Gottesbilder Umstürzende darin noch zu erkennen. Wer einmal ein Neugeborenes gesehen, auf dem Arm gehabt, für es gesorgt hat, weiß, dass es ganz und gar bedürftig, angewiesen, ohnmächtig ist. Neugeborenes Leben ist in höchstem Maße verletzlich, gefährdet auch, wird es leben? – unter den bedrängenden Umständen einer solchen Geburt unterwegs erst recht. Damals im Stall und heute noch immer tausendfach. Und genau diese Weise wählt Gott, um zu uns Menschen zu kommen.

Wo ist Gott? Seltsamerweise empfinden wir das als wenig weihnachtliche Frage. Dabei gibt die Geburt des Gottessohnes genau darauf eine Antwort: Gott ist dort, wo wir uns als ohnmächtig erfahren, als bedürftig und gefährdet, als zutiefst verletzlich, an den Grenzen des Lebens. Er ist in der Krippe im Stall, er ist auf den Wegen der Millionen Flüchtenden in aller Welt, er ist auf den Krankenstationen, dort, wo Menschen um ihr Leben kämpfen, an den Sterbebetten, er ist in den Familien, wo getrauert wird, er ist bei den erschöpften Medizinern und Pflegekräften, er ist in den schlaflosen Nächten derer, die nicht wissen, was morgen wird, bei den Einsamen, Ratlosen und Ängstlichen. Bei jedem von uns, der sich auf welche Weise auch immer am Rand des Lebens vorfindet. Auch wenn wir es nicht immer so erfahren, vielleicht sogar sehr oft nicht. Gott ist genau dort. Davon erzählt die Geburt des Gotteskindes im Stall.

Wo ist Gott? Noch eine zweite Antwort gibt die Geburt des Gottessohnes, und die ist nicht weniger wichtig. Gott kommt als neugeborenes Kind. Jedes Kind trägt die Verheißung auf Zukunft in diese Welt. Auf die eigene und auch auf die der Menschen, die zu diesem Kind gehören, der Eltern, Großeltern, Geschwister. Mit jedem Kind beginnt etwas Neues in dieser Welt, wird ein neuer Anfang gesetzt. Dass Gott gewählt hat, auf diese Weise zu uns zu kommen, heißt: Er ist da, wo wir über den Tag und seine Not und Angst hinausschauen und eine Verheißung auf Zukunft hören, wo sich uns Hoffnung auf neues Leben eröffnet. Oder vielleicht ist das noch zu wenig gesagt: Dass Gott wählt, seinen Sohn als Kind in die Welt zu schicken, heißt, dass Er selbst, dieser Sohn, Jesus Christus, der neue Anfang, das Leben und die Zukunft für uns ist. Sie kann sich uns eröffnen, wenn wir Ihn suchen, in der Krippe und an allen anderen Orten, an denen Er auch ist. Wenn wir auf die Verheißung hören, die mit ihm in die Welt gekommen ist, die vom großen Frieden, dem Shalom für Mensch und Tier und alle Welt spricht, sie nicht abtun angesichts all des Zerbrochenen und Verwüsteten in unserer Welt, sondern uns immer weiter danach sehnen, dass er möglich ist. Wenn wir uns mit Hoffnung immer wieder wie mit einer neuen großen Kraft anstecken lassen. Die uns erfüllt, dass wir nicht müde werden, sondern mitten in der Angst und Not dieser Zeit aus dieser Kraft leben, neue Anfänge schaffen, Trost, Zuversicht und Hoffnung wachsen lassen – durch jede Hand, die wir reichen, jedes Wort, das Mut macht und stärkt, jede Hilfe, die wir geben, jede Rücksicht, die wir nehmen, durch jede Tat der Liebe, und mag sie uns noch so klein scheinen.

Eine Weihnacht, die uns, unsere Herzen und Hände, stärkt und uns neu hoffen lässt, uns mit Mut für Morgen und Übermorgen erfüllt. Eine Weihnacht, die uns ahnen lässt, wo Gott ist, in all der Not. Eine Weihnacht, die uns erinnert daran und gewiss macht, dass das Kind in der Krippe, Jesus Christus, der Immanuel ist, der Gott mit uns. Gestern, heute und alle Tage bis an der Welt Ende. Und in diesen Tagen kein bißchen weniger. Möge es so sein für uns alle, wo auch immer wir jetzt sind. Amen

Pastorin Dr. Wiebke Bähnk