Allein steht die Witwe am Grab, nur ihr Enkel hält ihre Hand. Die wenigen anderen Trauergäste gehen zu ihr, aber halten Abstand, keiner nimmt sie in den Arm und zeigt auf diese Weise sein Mitgefühl. Wie verloren steht sie da. Ein kleiner Junge sitzt allein in einem Auto; sein Vater ist in eine Beratungsstelle gegangen, hat ihn zurückgelassen, weil nur eine Person hineingehen soll. Der Junge hat Angst und weint. Eine Frau kommt ins Krankenhaus. Sie soll sich entscheiden, ob ihr Mann oder ihre Tochter sie besuchen dürfen. Es werden ihre letzten Lebenstage sein, nur ihr Mann durfte noch zu ihr. Ein über 90jähriger, demenzkrank, lebt im Seniorenheim. Telefonieren ist für ihn schwierig geworden, Briefe erfreuen ihn nicht mehr, nur wenn jemand bei ihm ist, erzählt, einen Kaffee mit ihm trinkt, eine Mandarine und ein paar Kekse isst, fühlt er sich nicht allein. Anders als im Frühjahr ist das zwar nicht verboten, aber nicht gern gesehen und unter erschwerten Bedingungen nur möglich.


Es ist, da bin ich sicher, niemand unter uns, der nicht sagen würde: Das alles ist nicht richtig und gut. Und noch viele andere Situationen mehr, wo wir einander nicht geben können, was wir brauchen: Nähe, Begleitung, Berührung, Gemeinschaft. Der Verzicht auf all das resultiert aus der Angst vor dem Ansteckungsrisiko, aus der Verantwortung für die physische Unversehrtheit der anderen Menschen. Er kennzeichnet ein ethisches Dilemma, denn wir haben eben nicht nur für die körperliche Seite Verantwortung, sondern für den anderen Menschen in seiner Ganzheit, leiblich und seelisch.


Wenn ich meinen Vater nicht besuche, um jedes Ansteckungsrisiko zu vermeiden, wie es die Heimleitung trotz des jedes Mal erforderlichen Schnelltests gerne hätte, schütze ihn ich und seine MitbewohnerInnen zwar von meiner Seite vor körperlichen Folgen, lasse aber die erheblichen seelischen Folgen zu. Wenn ich ihn nicht besuche, bin ich 100%ig sicher davor, dass ich mich schuldig mache als Infektionsrisiko – in einem Zeitungsartikel hieß das so schön und so falsch “Wer nichts macht, macht auch nichts verkehrt”. Aber ich mache mich schuldig, dass ich ihn allein lasse.


Der Theologe Wunibald Müller hat einmal geschrieben, dass Schuldgefühle da entstehen, wo es zu einer “Diskrepanz zwischen unseren verinnerlichten Normen und dem tatsächlichen Verhalten” kommt. Wenn ich nach dem Liebesgebot lebe, meine Orientierung daran gewinne, wie Jesus diese Liebe gelebt hat – in Gemeinschaft, ohne Berührungsangst, mit einer Wahrnehmung der Menschen in ihrer ganzheitlichen Bedürftigkeit -, dann kann ich nicht anders, als diese beschriebenen coronabedingten Verhaltensweisen auch als schuldhaft zu empfinden.


Gibt es eine Befreiung aus diesem Dilemma? Ich denke an den wohl meistzitierten Satz des vergangenen Jahres von Gesundheitsminister Jens Spahn: “Wir werden einander viel zu verzeihen haben.” Das Wissen, dass wir immer aus der Vergebung leben, anders gar nicht leben könnten, hat einen befreienden Klang. Die Zuversicht, dass Gott uns mit dem Blick der Vergebung ansieht, wenn wir ihn bitten, daß unser Gebet “vergib uns unsere Schuld” von ihm gehört wird und erfüllt. Sogar auch dann, darauf vertraue ich fest, wenn wir uns in einem Moment, in einer Begegnung für die Nähe und die Gemeinschaft entscheiden, weil wir sie für menschlich notwendig erachten – und diese Entscheidung sich im Nachhinein betrachtet trotz aller Vorsicht als vielleicht unglücklich herausstellt.

Pastorin Dr. Wiebke Bähnk